
Die Geschichte Tai Chi Chuan
Am Anfang des Taiji steht ein Mythos – wie bei vielen großen Ideen, die die Welt bewegen.
Der Weise Zhang Sanfeng hatte sich als Einsiedler in die Wudang-Bergen zurückgezogen, die mit ihren Tempeln und Klöstern als ein berühmter, heiliger Ort des Daoismus gelten. Dort widmete er sich viele Jahre lang der Kultivierung des Qi und dem Studium der inneren Alchemie.
Eines Tages wurde Zhang Sanfeng plötzlich durch ein seltsames Geräusch aus seiner Versenkung aufgeschreckt, und er sah den Kampf eines Kranichs mit einer Schlange. Er beobachtete, wie der Kranich mit seinem Schnabel die Schlange angriff, die Schlange aber wich ständig mit dem attackierten Körperteil in kreisenden Bewegungen aus, um dann gleichzeitig den Kranich an einer ungeschützten Stelle anzugreifen.
Bei diesem Anblick entdeckte Zhang Sanfeng die Prinzipien des Taijiquan, denn er sah, wie der Kranich vor jedem Angriff innehalten musste, um zu zielen, während die Schlange so geschmeidig war, dass sie in ständiger Bewegung ausweichen und gleichzeitig angreifen konnte und so am Schluss den Kampf gewann.
Ob diese Begebenheit wirklich so geschehen ist, weiß heute niemand. Viele Legenden und Mythen ranken sich heute um die Ursprünge des Taiji. Aber sie beschreiben auf anschauliche Weise die Motive und Prinzipien, die zur Entwicklung des Taijiquan geführt haben: Seine geschmeidigen, kreisenden Bewegungen, das Ausweichen und die Erkenntnis, dass das Weiche das Harte besiegt.
Die Ursprünge des Taiji liegen wohl in Energieübungen zur Stärkung des Körpers und Reinigung des Geistes, die bereits vor einigen Jahrtausenden entwickelt und erforscht wurden.
Die Geschichte aller heute bekannten Taiji-Stile (auch des Yang-Stils oder Wu-Stils) beginnt ca. im 14. Jahrhundert. Im Dorf Chenjiagou pflegten Mitglieder der Familie Chen einen besonderen Boxstil, der auf der inneren Energie basierte. Chen Wangting (1597-1664) ist der erste historisch belegte Meister dieser Kunst. Er war ein General zur Zeit der Ming-Dynastie. Viele Generationen wurde das Chen-Stil Taiji als Geheimnis gehütet und nur innerhalb der Familie weitergegeben.
Erst Großmeister Chen Fake machte diesen Stil im 20. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Gemeinsam mit seinem Freund Hu Yaozhen, einem begnadeten Meister des Xinyi und daoistischen Arzt, gründete er die Beijing Martial Arts Research Society, eine berühmte Akademie zum Studium der inneren Kampfkünste. Einer seiner begabtesten Schüler war Feng Zhiqiang, der nach Chen Fakes Tod auch seine Nachfolge als Repräsentant des Chen-Stils in Peking übernahm. Nachdem auch sein erster Lehrer Hu Yaozhen gestorben war, wollte Großmeister Feng das Erbe seiner beiden Meister zu gleichen Teilen würdig bewahren. Er integrierte die intensive Energiearbeit des Hunyuan Qigong und wichtige Techniken und Prinzipien des Xinyiquan in die Formen und das Tuishou des Chen-Stils. Aus diesem Prozess entstand das Hunyuan Taiji, das heute so viele Schüler in aller Welt auch nach seinem Tod (2012) begeistert.
General Chen Wangting und das „Buch vom Gelben Innenhof“
Die historisch belegbare Geschichte aller heute bekannten Taiji-Stile beginnt mit der Familie Chen aus dem nach ihr benannten Dorf Chenjiagou (Tal der Familie Chen) in der Provinz Henan. Chen Wangting (1597 – 1664), 9. Generation der Familie, wird in einigen Quellen als „Vater des Taijiquan“ bezeichnet. Er war ein hoch angesehener General der Ming-Dynastie. Als diese 1644 gestürzt wurde, zog er sich in sein Dorf zurück und widmete sich den Boxkünsten. Rückblickend schreibt er: „Wenn ich mir die vergangenen Jahre in Erinnerung rufe, wie tapfer ich focht, um die feindlichen Truppen zu besiegen, und durch welche Gefahren ich hindurchging! Alle Gunst, die mir erwiesen wurde, ist nun nichts mehr wert! Jetzt, da ich alt und schwach bin, begleitet mich nur noch das Buch ‚Huang Ting‘. Das Leben besteht darin, Box-Formen zu kreieren, wenn ich deprimiert bin, Feldarbeit zu tun, wenn die Zeit dafür kommt, und die Freizeit damit zu verbringen, Schüler und Kinder zu unterrichten, damit sie wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden.“
Als Quelle der Inspiration für seine Boxkunst diente Chen Wangting das Buch „Huang Ting“, genauer: „Huang Ting Jing Nei Wai Yu Jing Jing“ – der „Klassiker des Gelben Innenhofes über die Innere und Äußere Jadelandschaft“ – ist ein vermutlich im 3. Jh. n. Chr. entstandenes daoistisches Werk über rechte Lebensführung, Ernährung, Sexualität und vor allem innere Energiearbeit zur Erlangung der „Unsterblichkeit“. „Huang Ting“, der „gelbe Innenhof“, steht in der daoistischen Tradition für das Körperzentrum (das Energiezentrum ‚Dantian’) und die Leere – als das höchste spirituelle Ziel, welches durch die energetische Transformation erreicht werden soll.
Chen Wangting beruft sich bei seiner Bemühung um neue Kampfformen auch noch auf einen anderen Klassiker: die 1575 erschienenen „Ji Xiao Xin Shu“ – „Die neu verfassten Annalen des Dienstes“, in denen der General Qi Jiguang die chinesischen Kampfkünste seiner Zeit beschreibt.
Gestützt auf das Studium dieser beiden Werke und seine eigenen Erfahrungen als Krieger verknüpfte Chen Wangting in seinen neuen Formen „äußere“ Kampftechniken mit daoistischer innerer Energieführung zu einem neuen System, das gleichermaßen der Gesunderhaltung diente als auch in der Kampfanwendung neue Erkenntnisse umsetzte. So wurde z.B. die Technik des „Wickelns des Seidenfadens“ (Chansijin) entwickelt, jene für den Chen-Stil charakteristischen Spiralbewegungen, die die Qi-Kreisläufe im Körper trainieren, die Gelenke öffnen und die explosiven Kraftentladungen (Fajin) ermöglichen.
An Bewegungsabläufen schuf er u. a. eine Langform mit 108 Figuren, Changquan (Langfaust) genannt, eine Form mit dem Namen „Kanonenfaust“ (Paochui) sowie die Übungen der „Schiebenden Hände“ (Tuishou) und der „Klebenden Speere“. Letztere werden zu zweit geübt, wobei die Speere immer in kreisendem Kontakt bleiben.
Die Entstehung anderer Stile des Taijiquan
Fünf Generationen später begann mit Chen Changxing (1771 – 1853) und Chen Youben (1780 – 1858) eine neue Periode in der Geschichte des Taijiquan. Sie brachte zum einen signifikante Veränderungen innerhalb des Chen-Familien-Stils, zum anderen ist sie gekennzeichnet durch die Entstehung anderer Stile außerhalb der Familie Chen.
Innerhalb der Chen-Familie fasste Chen Changxing die tradierten 7 Formen von Chen Wangting zu den heute bekannten 2 Formen des sogenannten „Alten (traditionellen) Rahmens“ (Laojia) zusammen. Dieser Stil wurde später unter der Bezeichnung „Neuer Stil“ weitergegeben.
Chen Youben unterrichtete Chen Qinping, der später in Zhaobao eine Stil-Variante lehrte, die unter dem Namen „Kleiner Stil“ firmierte. Hieraus entwickelte sich das Zhaobao-Taijiquan, und dieser Stil wiederum führte über Wu Yuxiang zum Wu-Stil.
Es war eine Zeit des Umbruchs. Vermehrt wurden in Chenjiagou Schüler von außerhalb unterrichtet. Der heute bekannteste ist wohl Yang Luchan (1799 – 1872), der 10 Jahre von Chen Changxing unterrichtet wurde und später in Beijing seine eigene Version, den Yang-Stil, begründete. Er hatte den Beinamen „Der Unbesiegbare“. Yang Luchan war der erste, der Taijiquan in größerem Umfang öffentlich unterrichtete, wodurch sich dieser Stil als erster in China, Ostasien und dann auch in der westlichen Welt ausbreitete.
Die Verbreitung des Chen-Stils begann erst ungefähr 100 Jahre später, als die Meister Chen Zhaopi und Chen Fake in den späten 1920er Jahren anfingen, in Nanjing und Beijing zu unterrichten. Großmeister Chen Fake (1887–1957), Urenkel von Chen Changxing und Linienhalter der 17. Generation, gilt als einer der ganz großen Meister der Chen-Tradition. Er lernte die Kunst bei seinem Vater, dem Arzt Chen Yanxi. Er wuchs in einer politisch äußerst instabilen Zeit auf, die ihm nicht einmal eine Schulbildung ermöglichte. Aber er übte jeden Tag viele Stunden Taijiquan. 1928 zog er auf Einladung seines Neffen Chen Zhaopi nach Beijing, da er in Chenjiagou keine Zukunftsperspektiven sah. In Beijing wurde Meister Chen Fake bald sehr berühmt durch seine Erfolge bei Kampfkunstwettbewerben und weil er einen lokalen Mafiaring zerschlug. Er erhielt den Namen „Taijiquan Yiren“, das bedeutet der „Unerreichte“. 1953 gründete er zusammen mit Hu Yaozhen die „Beijing Martial Arts Research Society“. Großmeister Hu Yaozhen war ebenfalls eine Kampfkunstlegende, aber berühmter vielleicht noch für seine Verbindung der inneren Kampfkunst Xinyiquan mit dem daoistischen Qigong. Er nahm das „Spiel der 5 Tiere“, das auf den großen Arzt Hua Tuo (2. Jh. n. Chr.) zurückgeht und in China wohl zu den bekanntesten Übungsformen des Qigong zählt, in sein Übungsprogramm auf und entwickelte es weiter. Hu Yaozhen war bekannt als „Ein Finger, der die Welt erobert“, was bedeutet, dass er ein exzellentes Fajin ausführen konnte. Großmeister Hu Yaozhen gilt heute als Vater des modernen Qigong.
Es war der Traum eines jeden Kampfkünstlers in Beijing, Schüler dieser beiden Meister Chen Fake und Hu Yaozhen zu werden. Das gelang unserem Großmeister Feng Zhiqiang.
Eine daoistische Kampfkunst
Die Ursprünge des Taiji liegen in schamanisch geprägten Ritualen der Urzeit. Aus genauer Beobachtung der Natur entstanden Übungen, welche die Leistungsfähigkeit des Körpers steigern und die Harmonie des Geistes bewahren. Man imitierte Bewegungen bestimmter Tiere. Einige dieser Übungen sind die Vorläufer des heutigen Qigong. Im Laufe der Zeit vermischten sich diese Übungen mit ritualisierten Kampftechniken, aus denen schließlich erste Gong Fu-Stile entstanden.
Einige dieser Stile betonten eher das Prinzip der Weichheit: das Zurückweichen, Ausweichen, den Gebrauch der inneren Energie (Qi). Und daraus entstand schließlich etwas ganz Besonderes: das Taijiquan – eine Kampf- und Gesundheitskunst, die auf den Grundsätzen der daoistischen Philosophie aufgebaut ist.

Der Daoismus ist eine uralte chinesische Philosophie, Religion und Erfahrungswissenschaft, die sich bereits vor Jahrtausenden in einzigartiger Weise mit der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des Lebens befasste und das Qi als Hauptantriebskraft aller Lebensvorgänge sah. Praktiken, die zur Kultivierung des Qi entwickelt wurden, sind heute weltweit unter dem Namen Qigong verbreitet. Sie spielen seit Urzeiten eine Rolle in der Gesundheitsvorsorge und Therapie und gelten als das Herzstück der inneren Kampfkünste.
Der Name „Taijiquan“ stellt auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Verbindung dar: „Quan“ bedeutet „Faust“, im erweiterten Sinne „Faustkampf“ oder allgemein „Kampfkunst“ bzw. „Form“.
„Taiji“, ein Begriff der daoistischen Philosophie, bezeichnet das „Höchste Letzte“, das „Höchste Prinzip“, das alles – das Sein und das Nichtsein – trägt und durchdringt. Aus diesem Taiji entsteht – gemäß der daoistischen Kosmologie – durch die Polarisierung in Yin und Yang die Welt mit all ihren Erscheinungsformen und Situationen, wobei man sich Yin und Yang als Gegensätze vorstellen muss, die sich ergänzen und gegenseitig bedingen. So besagt ja z. B. eine grundlegende Theorie des Taijiquan, dass Härte aus Weichheit entsteht und Schnelligkeit aus Langsamkeit, d. h. wenn das eine sein Extrem erreicht hat, kippt es in das andere, sein Gegenteil, um und umgekehrt.
Diese dynamische Interaktion von Yin und Yang , die dem Naturgesetz des Wandels aller Dinge entspricht, kommt auch sehr schön in dem bekannten Taiji-Diagramm zum Ausdruck, den beiden stilisierten Fischen, die die Gegensätze Yin und Yang symbolisieren, mit den Augen des jeweils anderen, das den Keim des Wandels darstellt. Hinter diesem Wandel steht das Unwandelbare, Wuji, die Leere, das Nichts, das die Fülle der ganzen Schöpfung enthält und durch den leeren Kreis symbolisiert wird.
Zhang Sanfeng
Der Legende zufolge hatte Zhang Sanfeng in der Nacht, nachdem er Tags zuvor in der Meditation durch den Kampf zwischen Kranich und Schlange gestört worden war, einen Traum. In diesem Traum erschien ihm Yu Huang, der oberste Gott des daoistischen Götterhimmels, und ließ ihn wissen, dass der Vogel und die Schlange ihm die Geheimnisse des Taiji offenbart hätten. Zhang Sanfeng sprang auf aus seinem Schlaf und machte sich an die Arbeit, eine neue Kampfkunst zu entwickeln, eine Kampfkunst, die nicht auf Härte und äußere Muskelkraft bauen würde, sondern auf die Entwicklung der inneren Energie, des Qi, eine Kampfkunst, in der das Weiche das Harte besiegen würde. Zu Ehren der nächtlichen göttlichen Inspiration, so heißt es, nannte er seine neue Kampfkunst „Taiji Quan“, die „Faust des Höchsten Letzten“.Zhang Sanfeng ist als historische Person nicht eindeutig belegt. Einige Quellentexte ordnen ihn der Song-Dynastie (960 – 1279) zu, die meisten Hinweise deuten aber auf die Ming-Dynastie (1368 – 1644), so dass zu vermuten ist, dass sich mehrere historische Personen unter diesem Namen vereinen. Die Figur des Zhang Sanfeng ist also eher eine Art Brennpunkt, in dem sich all jene Prinzipien und Entwicklungen verdichten, die Taijiquan zu einer inneren Kampfkunst gemacht haben.

Großmeister Feng Zhiqiang – Zurück zu den Ursprüngen (Hunyuan)
Feng Zhiqiang (1928-2012), erhielt zunächst bei Meister Hu Yaozhen eine Ausbildung in Xinyiquan, einer der drei inneren Kampfkünste, und in den daoistischen Qigong-Methoden und wurde dann von Hu Yaozhen Chen Fake vorgestellt, der ihn als Schüler annahm. Heute ist Großmeister Feng Zhiqiang der einzige noch lebende Lehrer der 18. Generation des Chen-Stils. 1983 wurde die „Beijing Chen-Stil Taijiquan Association“ gegründet und Feng Zhiqiang zum Vorsitzenden gewählt. Diese Organisation half, den Chen-Stil in ganz China und im Ausland zu verbreiten.
Nach dem Tod seiner beiden Meister entwickelte Großmeister Feng Zhiqiang seinen eigenen Stil, indem er die Qigong-Lehre von Meister Hu Yaozhen (und damit die daoistischen Ursprünge der Energiearbeit) und verschiedene Techniken des Xinyiquan in die Chen-Stil-Formen integrierte und so letztendlich eine Weiterentwicklung des Chen-Stils schuf. Um seinen beiden Meistern gleichermaßen Ehre zu erweisen, nannte er seinen Stil „Chen Stil Xinyi Hunyuan Taijiquan“, kurz „Hunyuan Taiji“.
